Alfred Kerr lesen

Seit Jahren steht ein Sammelband mit den Stücken des berühmten Weimarer Kritikers Alfred Kerr in meinem Regal, eines der vielen Bücher, von denen ich mir schon lange vorgenommen habe, sie zu lesen. Jetzt durfte ich in London seine Tochter Judith Kerr interviewen, die wunderbare 95jährige Illustratorin und Autorin von “Als Hitler das Rosa Kaninchen stahl”. Und zu diesem Anlass habe endlich angefangen Alfred Kerr zu lesen. Das Irrste dabei: Die Texte lesen sich, als wären sie gerade geschrieben worden. Manche könnte auch in einem guten Online-Magazin stehen und würden sprachlich kaum auffallen (thematisch natürlich schon, es geht oft um den Kaiser oder Bismarck). Dabei sind sie so um das Jahr 1900 entstanden. Wie schafft man das, durch ein Jahrhundert hindurchzugreifen und seine Leser zu erreichen, habe ich mich gefragt. Ich glaube, es hat etwas mit sprachlichen Moden zu tun (zeittypische Tonfälle; was gerade als als gutes Schreiben gilt). Diese aber funktionieren nur in der Zeit, in der sie entstehen, schon zwanzig Jahre später wirken sie abgestanden oder eitel und hundert Jahre später sind sie nicht mehr zu dechiffrieren. (Siehe auch preisgekrönte Reportagen oder super akademische Feuilletonstücke aus den Achtzigern und frühen Neunzigern.) Wenn jemand also hundert Jahre später immer noch saufrisch wirkt, dann hängt das meiner Ansicht nach damit zusammen, dass er, also Kerr, sich schon damals von stilistischen Moden freigemacht hat und genau die richtige, eigene Sprache findet, um das zu sagen was er sagen will. Und das klingt so:
29. März 1896:
“So ist denn dieser Winter unwiderbringlich zuende. Es war, alles in allem, ein milder Winter, ein lauer Winter, ein flauer Winter; ohne große Aufregungen, ohne große Umwälzungen, ohne große Errungenschaften. Die Leute sitzen jetzt wieder bei Josty im Freien und trinken Kaffee, sie spielen wieder lawn tennis in ihren Gärten, sie fahren wieder nach dem Café Grunewald, um Abendbrot zu essen…”

Aus: Alfred Kerr: Wo liegt Berlin?